Das Haus in der Widenmayerstraße

Die Geschichte reicht jedem persönlich die Hand, dass er sich damit auseinandersetzt. Und wer sich nicht der Geschichte stellt, der wird von der Geschichte gestellt, hat dieser Tage der österreichische Nationalratspräsident philosophiert.

Ada Zapperi Zucker geht im Roman „Das Haus in der Widenmayerstraße“ der Frage nach, wie man den nächsten Generationen Geschichte erzählen kann, ohne dass sich diese aus Scham, Grauen oder Widerwillen abwenden. Denn das historische Bewusstsein eines Menschen bildet sich erst ab der Hälfte des Lebens, bis dahin erscheint den jungen Leuten alles austauschbar, beliebig oder unterhaltsam.

Die Heldin Serafina ist eine fröhliche Lern-Streunerin durch den Kontinent, ehe sie in München sesshaft wird. Ihre Vorfahren stammen aus Schweden oder Italien, sie selbst hat die Kindheit in der Toskana verbracht, ehe sie jetzt die Wohnung des Großvaters in München geerbt hat. Sie will Sprachen studieren und ihre Hauptsorge gilt der Struktur der neuen Sprache, die sie lernen will. „Wer hat das alles erfunden?“ (27) fragt sie sich, als ihr zwischendurch die Sprache äußerst rätselhaft vorkommt.

In der Wohnung hat sie eine Frau Edith und eine Katze vorgefunden, beide nehmen sie zunehmend in Beschlag. Serafina beginnt mit dem Schreiben, um die Wahrnehmungen halbwegs in ein Sinngerüst zu bringen. Denn alles, was Frau Edith erzählt, hat auch verschwommene Züge und es stellt sich heraus, dass die Familie beileibe nicht so klar aufgestellt ist, wie man es dem Mädchen stets vermittelt hat.

Beinahe täglich kommen in der Verwandtschaft neue Züge zum Vorschein, eine Linie geht ins sogenannte Sudentendeutsche und verliert sich in der Nazizeit, und das Haus selbst wird auch täglich mysteriöser, es ist um die Jahrhundertwende erbaut, aber die Bewohner bleiben im Dunkeln. Arisierung sagt dann jemand und es kommt zum Vorschein, dass Großvater das Haus nicht lupenrein erworben hat.

Als Edith dann noch ein Fotoalbum auspackt und darauf lauter unheimliche Querverbindungen zu sehen sind, hat Serafina allerhand zu schlucken, um sich in dieser anderen Familiengeschichte zurechtzufinden. Oft liegt die Hürde auch in der Sprache, es dauert eine Weile, bis sie begreift, dass Seitensprung mehr ist als eine sportliche Übung.

Abfall des Gedächtnisses (90) nennt sich alles, was beim Leben entsteht aber vorerst noch keinen Platz in der Geschichte hat.

Letztlich tauchen noch Briefe auf, die einige Rätsel in der Widenmayerstraße lösen können. Die Heldin tut sich mit ihrem Bruder zusammen und schaut noch einmal hinter die Hohlräume und Verstecke des Hauses, ehe sie beschließt, Frieden mit der Geschichte zu schließen und die Sprache vollends zu studieren.

Ein faszinierender Rundgang durch ein Haus, die Sprache und die Zeitgeschichte. Und eine Hommage an das tägliche Schreiben, denn wenn nicht mehr geschrieben wird, ist alles verloren.

Helmuth Schönauer 30/01/18
Tiroler Landesbibliothek